Jedes Jahr aufs Neue ist Pfingsten die Zeit des Jahres, zu der sich die schwarze Szene in Leipzig versammelt. Das war auch in diesem Jahr nicht anders. Das Wave-Gotik-Treffen ist eine feste Größe im Festivalkalender der alternativen Musik. Und dabei ist es gar kein Festival im herkömmlichen Sinne, sondern viel mehr eine umfassende kulturelle Veranstaltung. Neben den Auftritten von über 200 Bands verschiedenster Stilrichtungen, die nur einen Teil des Treffens ausmachen, finden traditionell auch viele Vorlesungen von diversen Autoren, Ausstellungen von Künstlern verschiedenster Stilrichtungen in Galerien, spezielle kuratierte Schauen in Museen mit zu den Themen der schwarzen Szene passenden Inhalten, mittelalterliches Markttreiben an verschiedenen Standorten, mehrere Theater-Veranstaltungen, Friedhofsführungen durch den Südfriedhof, einen von Deutschlands größten Parkfriedhöfen, ja sogar auf die Besucher ausgerichtete Gottesdienste statt. Und selbst eine Hochzeit im passenden Gothic-Outfit fand in den Kasematten des Neuen Rathauses statt. Die Stadt Leipzig macht zum WGT eine Menge möglich …
Leipzig ist in den ungefähr letzten 15 Jahren immer mehr zum Protagonisten des Treffens geworden. Allein die Vielzahl der Veranstaltungen zeigt schon, welche Vielfalt der Besucher des WGT geboten bekommt. Über 70 verschiedene Veranstaltungsstätten bieten dabei noch mehr als die weiter oben schon angedeuteten Themenfelder. Oder wer hätte gedacht, dass es seit einigen Jahren sogar einen Stricknachmittag für Besucher gibt, die einfach mal in Ruhe ein wenig quatschen wollen. Wer hingegen etwas für seine Bildung tun wollte, konnte zum Beispiel aus dem Besuch des Ägyptischen Museums, des Museums „Runde Ecke“ mit einer Sonderschau zur Bespitzelung der sich in den 80ern entwickelnden Schwarzen Szene in der DDR oder dem Stadtgeschichtlichen Museum mit einer Sonderschau zu den Anfängen der Schwarzen Szene in Leipzig wählen. Nicht zu reden von den Grassi-Museen, in denen zum Beispiel Ausstellungen zu Renaissance-Kostümen, zum Umbruch europäischer Trinksitten mit der Einführung des Kakaos vor 500 Jahren nach der Entdeckung Amerikas oder mit Entwicklung und Bedeutung von Tattoos und Piercings auf interessierte Besucher warteten.
Highlight für viele Besucher bleiben sicher trotzdem die Auftritte verschiedener Bands. Das WGT ist mittlerweile bekannt dafür, das gerade alte Urgesteine der Szene, sich für ein Konzert auf dem WGT wiedervereinigen oder spezielle Shows geben, die es nur hier beim WGT zu sehen gibt. Konnte man letztes Jahr zum Beispiel Sigue Sigue Sputnik in halbwegs Originalbesetzung sehen, so beehrten in diesem Jahr die wiedervereinigte Skeletal Family das Treffen. Weitere Höhepunkte waren zweifellos die Auftritte von The Mission oder Skinny Puppy in der Agra-Halle. Stark gefeiert wurde auch der Auftritt von Amanda Palmer, Teil des Duos The Dresden Dolls und unterwegs mit eigenem Programm.
Freitag
Aber der Reihe nach. Da es bei der Vielzahl an Veranstaltungen nicht einmal ansatzweise möglich war, überall dabei zu sein, musste eine Vorauswahl getroffen werden. So zog es mich am Freitag zuerst ins NonTox, einen Club im Westen Leipzigs, der mit Open-Air-Bühne im Innenhof und Electro- und EBM-Acts lockte. Seit einigen Jahren als Spielstätte dabei, macht die NonTox-Crew einen routinierten Job und die Konzerte finden strikt nach Zeitplan statt. Neustrohm, neuerdings gleich ganz nach Leipzig gezogen, dienten als Warm-Up und zogen schon die ersten Party-People an. Es folgten Unterschicht, die mit extravagantem Bühnenoutfit ein Hingucker waren. Ihre Musik begeisterte ebenfalls schon trotz des frühen Nachmittags viele Zuschauer.
Danach zog es mich ins Heidnische Dorf im Stadteil Dölitz, unweit des Treffen-Hauptgeländes der Agra, wo auch wie jedes Jahr der Treffen-Zeltplatz lag. Im historischen Torhaus Dölitz, Rest einer alten Wasserburg und später eines Herrenhauses und übrigens umkämpfter Punkt während der Völkerschlacht 1813 fand wie jedes Jahr das Heidnische Dorf Platz. Dies ist ein weitläufiger Mittelaltermarkt mit jeder Menge Kunsthandwerk, von Schmieden über Weber und Kerzenzieher, bis hin zu Rüstungsverkaufsständen diverser Anbieter von Reenactment über LARP bis hin zu Fantasy. Natürlich wird auch ausreichend an Getränken und Speisen geboten. Und darüber hinaus befinden sich hier zwei Bühnen, eine rein für Akkustik-Bands und eine größere, auf der bis in den späten Abend allerlei Konzerte stattfinden. Am Freitagabend geben sich hier bis in die Nacht mit Metusa, Romuvos, Trobar de Morte und Tanzwut die ersten Highlights die Klinke in die Hand. Besonders Trobar de Morte aus Spanien begeistern das Publikum mit ihrem Medieval Folk. Über Tanzwut braucht man nicht mehr viele Worte zu verlieren. Die Band ist auf den Festivals und Bühnen dieser Republik wohlbekannt und zieht das Publikum wie eh und je mit ihrer mitreißenden Show an.
Als Abschluss des ersten Tages folgt zuerst ein kleines Highlight mit dem Auftritt von Skeletal Family im Felsenkeller. Die Band, die sich schon in den 80ern gründete und damals zu den Vorreitern und prägenden Bands der frühen Dark Wave und Gothic-Szene im Thatcher-Großbritannien gehörte, trat mit Original-Sängerin Anne-Marie Hurst auf, die trotz Verletzung durch eine Hundeattacke am Vortag tapfer ihr Set durchzog. Wenn auch in einer verkürzten Version. Dafür versprach die Band, im nächsten Jahr wieder auf dem WGT aufzutreten. Und als ob das noch nicht genug an großartigen Auftritten war, folgte noch später am Abend Amanda Palmer in der Agra-Halle. Die anfänglichen Probleme mit einem nicht funktionierenden Keyboard überspielten sie und ihre Begleitmusiker professionell und im steten Kontakt mit dem Publikum, das ihr zu Füßen lag.
Samstag
Nach dem ersten Tag noch halbwegs ausgeruht geht es frohgemut in den Treffen-Samstag. Seit einigen Jahren versucht Luci van Org als Schirmherrin des Bundesverbandes verwaister Eltern und trauernder Geschwister in Deutschland e. V., der in Leipzig sitzt, ein wenig Öffentlichkeitsarbeit zu betrieben und Spendengelder zu sammeln. Dazu gehört auch in jedem Jahr eine Veranstaltung im Rahmen des WGT. Dieses Jahr war ein Akustik-Konzert ihres Projektes Übermutter geplant, das seit einigen Jahren eher brach liegt. Nachdem Luci sah, welch Besucheransturm sich da vor den Geschäftsräumen des Vereins tummelte, beschloss sie kurzerhand, das ganze Konzert nach draußen zu verlegen und schon kurze Zeit später geht’s in bester Straßenmusikertradition los. Das Publikum ist begeistert von ihrer unkomplizierten Art und der Musik.
Nach diesem tollen Auftakt kann es kaum noch besser werden. Trotzdem setzt das Akustik-Konzert von Trobar de Morte in der Kirchenruine Wachau noch eins drauf. Die Ruine – es stehen nur noch die Mauern der Kirche, das Dach fehlt – ist brechend voll. Selbst auf Mauervorsprüngen sitzen Zuschauer und es werden immer mehr Stühle hineingeräumt. Vor der Tür stehen weitere Besucher, die nur erahnen können, was sich auf der Bühne – der ehemalige Altarraum – abspielt. Das Konzert selbst gewinnt durch die großartige Umgebung noch einmal an Emotionalität und Eindruckskraft.
Kontrastprogramm dann im Kohlrabizirkus. Die perfekte Live-Show von Xandria gibt richtig was auf die Ohren. Sängerin Dianne van Giersbergen sieht nicht nur toll aus, sondern bringt die volle Halle auch durch ihre Performance zum Kochen. Die Spielfreude der Band überträgt sich nahtlos auf das Publikum. Zur nächsten Band In the Woods leert sich die Halle ein wenig. Da findet dann wohl doch ein gewisser Publikumsaustausch statt. Denn statt Symphonic Metal gibt es nun Progressive Metal. Das ist für das Publikum deutlich anspruchsvoller und weniger zum mitklatschen geeignet. Dabei sind die Norweger alte Hasen. Schon seit 1992 treten sie gemeinsam auf, trennten sich dann 2000 voneinander und erst seit 2014 gibt es wieder gemeinsame Auftritte. Stimmgewalt und melodische Tiefe haben sicher nicht nur mich beeindruckt.
Andere Veranstaltungsstätte – gleiche Nation. Der atmosphärische Post-Metal und Post-Rock der Norwegerin Sylvaine beleuchtet eine ganz andere musikalische Facette und hat doch seine Wurzeln im Metal. Das fast schon ätherische Spiel entfaltet seine ganz eigene Faszination. Dazu gibt das Alte Landratsamt mitten in der Stadt noch seine eigene atmosphärische Note dazu. Und um den Tag abzurunden, gibt es am Ende noch eine Prise Dark Wave. Mit Lebanon Hanover geben sich gefeierte Avangardisten des Minimal- und Coldwave im Stadtbad Leipzig die Ehre. Die Halle ist brechend voll. Kein Wunder, treffen Larissa Iceglass und William Maybelline doch fabelhaft den Geschmack der Massen mit einer coolen Mischung aus britischem Wave und Berliner Nüchternheit. Manche Sounds sind einfach zeitlos und mit einem kleinen Update sind sie so modern, wie vor 30 Jahren, als Bands wie Joy Devision oder The Cure diesen Stil kultivierten.