Ein persönlicher Rückblick. Drei Jahre sind vergangen seit dem letzten Wave-Gotik-Treffen. Kann Leipzig noch WGT? Kann ich noch WGT? Ich probiere es aus.
Donnerstagabend, Moritzbastei
Die traditionelle Eröffnungsparty. Oder zumindest eine von mehreren traditionellen Eröffnungsparties. Und tatsächlich treffe ich in den verschlungenen Gängen und durch zahllose Treppen miteinander verbundenen Katakomben und Tanzflächen alle meine Freunde dort, einige sieht man nur einmal im Jahr, eben zu Pfingsten. Die Freude ist allenthalben groß, wieder hier zu sein und Vorfreude auf die kommenden Tage bestimmt den Abend. Aber ich habe die Moritzbastei voller in Erinnerung. Wobei es auch angenehm ist, sich nicht nur in einer endlosen Menschenschlange voranschieben zu müssen, sondern etwas Raum zu haben.
Erster Tag, Altes Stadtbad
Ich habe mich entschlossen, das WGT mit Dark Electronic und Dream Pop zu beginnen. Das Alte Stadtbad ist mein Ziel. Während hier bis 2004 noch die Fluten eines Wellenbades an den Beckenrand schwappten, ist das Stadtbad seit einigen Jahren bekannte Adresse für Konzertveranstaltungen und Galadinner geworden. Die große Halle des 1916 eröffneten Baus fasst einige Hundert Zuschauer und ist auch gut gefüllt. Cirque D’Ess, Shad Shadows, NNHMN und Choir Boy bringen die Besucher zum Tanzen oder in manchen Fällen auch nur zum Mitwippen. Als ich den Bierstand vor dem Gebäude besuche, fällt mir allerdings auf, dass draußen gar keine Schlange zu sehen ist. Alle, die rein wollten, kamen hier auch rein. Bislang galt beim WGT auch immer an vielen Spielstätten mit begrenztem Platzangebot: Je später der Abend, umso länger die Schlangen der Besucher, die noch einen Platz zu ergattern hoffen.
Den Abend beschließe ich im Westbad. Zufälligerweise ebenfalls eine ehemalige städtische Schwimmhalle, errichtet in den 20erjahren des letzten Jahrhunderts und ein bedeutendes Beispiel für das Neue Bauen – aus der gleichen Entwicklung von Architektur und Gestaltung stammt die Strömung der Neuen Sachlichkeit und das heute noch bekannte Bauhaus. Heute dient auch das Westbad als Event-Location. Heute sind hier einige Bands der härteren elektronischen Gangart zusammengefasst. Nachdem die wuchtigen EBM-Klänge von Centhron verklungen sind, findet ein Publikumswechsel statt. Kurzzeitiges Gedränge im engen Treppenhaus, aber jeder, der nun noch zu Aesthetic Perfection möchte, kommt auch rein. Es hat auch etwas Gutes, wenn es nicht so übervoll ist, doh drin ist es dann doch recht gedrängt. Das Westbad ist nun auch nicht die größte Location und Aesthetic Perfection ziehen viele Fans an. Egal, die Show hat Verve und macht nur noch mehr Lust auf die nächsten Tage.
Zweiter Tag, Heidnisches Dorf
Heute gibt es Frischluft. Eigentlich wäre ja der Freitag der bessere Tag gewesen, um das Mittelalter-Areal des Wave-Gotik-Treffens zu besuchen. Neben allen Besuchern mit Festival-Bändchen können hier auch alle anderen mit einer extra Eintrittskarte eintreten. Und am Freitag sind das meist noch nicht so viele, während am Wochenende dann gefühlt halb Leipzig mit Kind und Kegel hierher strömt, um sich einen schönen Nachmittag oder Abend zu machen. Doch auch am heutigen Samstag ist es zwar recht gut gefüllt, aber noch nicht so sehr, dass es nur noch ein Schieben und Drängeln werden würde. So kann man ganz entspannt der meditativ-folkigen Musik der spanischen Band um Sängerin Trobar de Morte zuhören und schauen. Und wer das Kontert verpasst hat, kann in der Kirchenruine Wachau, einem Dorf im Leipziger Umland in den nächsten Gagen von ihr ein Zusatzkonzert an einem besonders romantischen Ort erleben. Mit Corvus Corax kehren wir dann in die Szene der deutschen Mittelalter-Bands zurück. Das ist nicht allzu weit von der vorherigen Band entfernt, aber eben doch bestimmt von Dudelsack und lauten Percussions. Mit Era Metallum steht in Kürze das nächste Album in den Startlöchern.
Tvinna, eine Band von unter anderem einigen Ex-Faun-Mitgliedern bringt dann nach der Abenddämmerung erneut wieder sehr stimmungsvolle, ruhige Klänge, die schon der Weltmusik zugeordnet werden können. Mit ihren melodisch ineinandergreifenden Frauenstimmen eine Show zum Hinfortträumen.
Und zum Schluss geht es noch einmal in die Agra-Halle, die wie immer das Epizentrum des Wave-Gotik-Treffens bildet. Schließlich befindet sich rundherum auf dem ehemaligen Agra-Gelände der Campingplatz und nebenan gleich noch die Szenemesse mit vielen Händlern aus allen Bereichen der Gothic-Subkultur. VNV Nation bilden mit ihrem wunderbar harmonischen Synthiepop einen der Höhepunkte des diesjährigen Festivals.
Dritter Tag, Agra
Nach etwas Einstimmung erneut im Heidnischen Dorf mit den Pagan-Metallern von Finsterforst, die mit ihren wunderbar lang ausgespielten Songs voller Melancholie und Energie ein Versinken in ihrem Sound leicht machen, folgt mit Fejd eine schwedische Folk-Band. Fejd verwenden zum Großteil authentische mittelalterliche Instrumente. E-Gitarren kommen erst seit einigen Jahren zum Einsatz, bestimmen aber den Sound der Band weiterhin nicht.
Der Abend ist nun den Bands in der Agra-Halle vorbehalten. Mit Girls Under Glass tritt ein Urgestein der deutschen Gothic-Szene auf. Die Band, 1986 gegründet, hat sich dabei festen Genregrenzen immer verweigert. In den frühen Jahren vor allem Gothic-Rock spielend, kamen später immer mehr elektronische Elemente hinzu. Selbst Metal-Anklänge wurden verarbeitet. Und so bleibt es immer spannend, was die Gruppe um Frontmann Volker Zacharias für Einflüsse in ihrer Musik verarbeiten.
Die Finnen von The 69 Eyes spielen überraschend früh, sie könnten auch als Headliner auftreten. Die Musiker haben die Dark-Rock-Show voller Posen natürlich im Schlaf drauf und reißen die Halle mit ihrem Sound gekonnt ab. Ihr letztes Album ist Westend von 2019. Es hat immerhin Platz 38 in den deutschen Charts erreicht, die Band hat also auch hierzulande eine Menge Fans. Das ishrt man auch, denn die Halle ist seit geraumer Zeit gut gefüllt und noch immer strömen neue Besucher hinzu.
Aber nun kommt mit Lacrimosa für viele sicher einer der absoluten Höhepunkte des diesjährigen WGT und heutige Headliner. Obwohl es heißt, dass das Projekt von Tilo Wolff und Anne Nurmi Symphonic Metal spielt, sind doch die weitaus meisten Songs vor allem Symphonic. Mit Theatralik als Pose unterstützt Sänger Wolff die Aussage vieler seiner Songs. Ein Erlebnis für Augen und Ohren.
Als Mitternachtsspecial tritt kurz vor 1 Uhr Nachts Gary Numan. Der britische Elektropop- und Synthpop-Pionier kann aus einem reichhaltigen Fundus schöpfen. Schon in den frühen 80ern mit mehreren Nummer 1 Alben in Großbritannien ein bekannter Musiker, gelang ihm danach erst wieder ab Mitte der 90erjahre ein Comeback. Auch seine letzten Alben waren sehr erfolgreich. Intruder von 2021 stieg in UK bis auf Platz 2 und in Deutschland auf Platz 15. Die Halle ist weiterhin voll und das Publikum feiert auch diesen -Ausnahmemusiker.
Vierter Tag, Täubchenthal
Der Montag im Täubchenthal hat sich seit einigen Jahren als Epizentrum des Horror-Punk auf dem WGT etabliert. Hier spielt, was in der kleinen, aber sehr internationalen Szene der Bands, die am liebsten mit dem Kontrabass unterwegs sind, Rang und Namen hat. In diesem Jahr treten zum Beispiel Hellgreaser, The Fright und Rezurex auf. Es macht einfach Spaß, den Musikern bei ihren Performances auf der Bühne zuzusehen und zuzuhören. Da wippt der Fuß, während auf der Bühne Kunststücke mit dem großen Zupfinstrument gezeigt werden. Einmalige Bühnenoutfits tun das Übrige.
Und am Ende fahre ich noch einmal ins Heidnische Dorf. Aber letztendlich ist es egal, wo man den letzten Abend verbringt, denn er ist an jedem Spielort und auf jeder Bühne großartig und bleibt wie jedes Jahr in Erinnerung. Eigentlich heißt die angekündigte Band Patty Gurdy’s Circle, doch der Circle ist ihr leider vor wenigen Tagen abhanden gekommen. Patty Gurdy, die seit Jahren eine stark wachsende Fangemeinde zum Beispiel über YouTube mit ihrem Drehleierspiel begeistert, hat es aber trotzdem hinbekommen, einen vollwertigen Auftritt mit Band auf die Beine zu stellen. Mit einem großartigen Konzert unterhält sie die Besuchermenge vor der Bühne, die entzückt ist.
Und den Abschluss des WGT im Heidnischen Dorf bilden dieses Jahr Tanzwut. Ob sie ihre einstigen Kollegen von Corvus Corax, die zwei Tage vor ihnen auf der gleichen Bühne standen, getroffen haben? Denn Tanzwut ist als mit Elektroklängen angereichertes Nebenprojekt von Corvus Corax gestartet, bis es nach einigen Jahren dann als vollwertige Band quasi ausgekoppelt wurde. Seitdem sind Tanzwut zu einer der wichtigsten Mittelalter-Rock-Bands Deutschlands geworden und bieten Headliner-Qualitäten und eine frenetische Fanschar, die sich sehr zahlreich eingefunden hat, um mit ihnen zusammen den ausklang des 29. Wave-Gotik-Treffens zu zelebrieren. Nächstes Jahr trifft man sich zum Jubiläumstreffen, dem 30. Man darf gespannt sein, wer dann alles auftreten wird.
Achja … Sowohl ich war wieder in der altbekannten WGT-Stimmung, in der man traumtänzerisch durch das Pfingstwochenende wandelt, als würde es immer so bleiben. Und auch Leipzig hat die „Schwarzen“ wieder freudig umarmt, so wie man es gewohnt war aus früheren Jahren vor der Coronapause. Das Experiment vom Anfang ist also geglückt. Ein paar mehr Besucher könnten aber wieder werden, auch wenn die kurzen Schlangen an den verschiedenen Veranstaltungsorten sicher positiv von vielen Besuchern aufgenommen wurden. Es wurden bestimtm viel weniger Konzerte wegen Überfüllung des Veranstaltungsortes verpasst.
(Alle Bilder © Stefan Bollmann)