Das 27. Wave-Gotik-Treffen (Teil 1)

Cesair (© Stefan Bollmann)

Pfingsten ist der Feiertag des Schwarz. Oder so ähnlich. Jedes Jahr zum Pfingstwochenende wird Leipzig zum Mekka der Schwarzen Szene. Die Stadt hat sich längst auf das Eintreffen von mehr als 20.000 Gästen mit dediziert düsterer Aufmachung eingestellt. War das Wave-Gotik-Treffen in den ersten Jahren noch ein reines Musikfestival in einer Veranstaltungsstätte, so ist es in den letzten 20 Jahren in die gesamte Stadt hineingewachsen. Das gilt nicht nur für die Musik, die mittlerweile auf Spielstätten in der ganzen Stadt verteilt ist und schon allein deswegen viele Besucher dazu bringt, sich quer durch Leipzig zu bewegen. Es gilt umso mehr, da das WGT schon lange keine reine Musikveranstaltung mehr ist. Von den etwa 70 Veranstaltungsstätten bietet die Mehrzahl denn auch keine Auftritte szenetypischer Bands – obwohl über 220 Bands auf dem Treffen auftreten – sondern vielfältige andere Programme. Das fängt an bei den Stätten der Hochkultur wie Oper, Gewandhaus und Thomaskirche an, die Aufführungen des Musicals „West Side Story“, französische Kathedralmusik des 19. und 20. Jahrhunderts und Musik des Mittelalters und der Renaissance bieten. Das geht über eine Vielzahl von Museen wie die Grassimuseen für Völkerkunde, Musikinstrumente und Angewandte Kunst, das Stadtgeschichtliche Museum, das Stasimuseum, das Deutsche Kleingartenmuseum, das Bildermuseum, das Museum für Druckkunst und selbst das Zinnfigurenmuseum im Torhaus Dölitz, die alle für Treffen-Besucher freien Eintritt und spezielle Sonderschauen anbieten. Das geht über Varieté-Veranstaltungen zu Modenschauen und über eine Vielzahl von Lesungen zu vielen verschiedenen Themen bis hin zu Ausstellungen der Bildenden Kunst an vielen Orten. Das Programm des WGT ist also ein ungeheuer weit gefächertes. Selbstverständlich durften auch die mittlerweile schon traditionell zu nennenden Grabarchitektur-Führungen über den Südfriedhof nicht fehlen. Ebenso wie das Viktorianische Picknick, mittlerweile ein Massenauflauf von ca. 8.000 Menschen, deren eine oft fantasievoll gewandete Hälfte sich dabei von der anderen Besucherhälfte beim picknicken beobachten und  fotografieren lässt. In diesem Jahr sogar mit dem musikalischem Überraschungsgast Goethes Erben.

Rapalje (© Stefan Bollmann)

Überhaupt wurde musikalisch wieder so einiges geboten. Trotz Wegfall der bisherigen Veranstaltungsstätte Kohlrabizirkus, die vor allem für Bands der härteren Gitarrenfraktion gebucht wurde, fanden sich noch genug Orte, an denen Bands vor einem größeren Publikum auftreten konnten. Ein Wechsel von Veranstaltungsorten ist sowieso Kennzeichen des WGT seit seinem Beginn. Das Problem der begrenzten Kapazität der Spielstätten besteht allerdings auch schon immer und lässt sich bei einem Konzept, bei dem die Bandauftritte über die ganze Stadt verteilt werden, nicht vermeiden. Das übliche Format bei Musikfestivals mit Bühnen und Campingground irgendwo auf dem Acker in der Provinz mag dieses Platzproblem nicht haben, Konzerthallen mit Besucherkapazitäten von einigen Hundert stoßen aber eben irgendwann an ihre Grenzen. Das WGT lädt bewusst keine Superstars ein, die allein zehntausende Menschen anziehen, sondern setzt seit jeher außer auf szenebekannte Bands auch stark auf junge, noch unbekannte oder nur regional bekannte Bands, die auf dem Treffen willkommen sind. Trotzdem ist der Andrang an vielen Orten so hoch, dass es immer wieder zu Schlangen mit mehrstündiger Wartezeit kommt. So gerne am Schauspielhaus, dass aufgrund seiner Sitzplätze eine strikte Kapazitätsgrenze besitzt. Aber auch Orte wie das Haus Leipzig, Felsenkeller oder Täubchenthal werden abends zu den Headlinern sehr stark frequentiert. Denn immer wieder gibt es auch besondere Auftritte, Reunions längst aufgelöster Heroen der 80er, besondere Shows anlässlich des WGT, Bandjubiläen und ähnliches, die man alle nur hier erlebt.

Freitag

Im Heidnischen Dorf (cc-by-sa/Stefan Bollmann)

Erholt von der Eröffnungsparty am Donnerstag im legendären Leipziger Studentenclub Moritzbastei (bei dessen Bau half den Legenden nach selbst Angela Merkel damals in den 70ern in ihrer Zeit als Leipziger Physikstudentin), führte mich mein erster Festivaltag ins Heidnische Dorf ans Torhaus Dölitz, unweit des Agra-Geländes, das das Epizentrums des WGT in der Stadt bildete. Das Heidnische Dorf ist ein weitläufiger Mittelaltermarkt mit jeder Menge Kunsthandwerk, von Schmieden über Weber und Kerzenzieher, bis hin zu Rüstungsverkaufsständen diverser Anbieter von Reenactment über LARP bis hin zu Fantasy. Natürlich wird auch ausreichend an Getränken und Speisen geboten. Und darüber hinaus befinden sich hier zwei Bühnen, eine rein für Akkustik-Bands und eine größere, auf der bis in den späten Abend allerlei Konzerte stattfinden. Das Heidnische Dorf ist dabei auch für Besucher, die kein Festivalbändchen besitzen, mit Eintritt zugänglich. Am Wochenende ist es dementsprechend immer sehr voll hier, denn viele Leipziger nutzen die Gelegenheit, hierher zu kommen. Jetzt, am ersten Tag war es noch recht angenehm, was den freien Platz anging.

Eivør (© Stefan Bollmann)

Die große Bühne bespielten nacheinander die süddeutschen Mittelalter-Metaller von Ingrimm und die Niederländer von Cesair mit ihrer bezaubernden Mischung aus Weltmusik und Folkmelodien. Vor der Bühne hatte sich mittlerweile eine große Menge Publikum eingefunden. Die Bühne blieb in niederländischer Hand, denn die vier in Kilts gewandeten Musiker von Rapalje heizten die Stimmung unter den Besucher mit irischen und schottischen Traditionals an. die Band ist schon seit vielen Jahren auf derlei Veranstaltungen unterwegs und hat sich eine treue Fangemeinde erspielt. Danach spielte, als Höhepunkt des Abends, Eivør. Die Sängerin und Songwriterin von den Färöern gilt dort als eine Art Staatskünstlerin und ist einer der bekanntesten  musikalischen Botschafter der nordatlantischen Inselgruppe. Mit ihrem Folk-Pop mit traditionellen und keltischen Elementen sowie ihrer Stimme irgendwo zwischen Björk und Kate Bush beeindruckte sie sicher jeden, der gekommen war, um die Ausnahmesängerin zu hören. Zufrieden verließ ich für diesen Tag das WGT.

 

Samstag

Evo-Lution (© Stefan Bollmann)

Da man am zweiten Tag ganz sicher noch keine Festivalmüdigkeit vortäuschen kann, stürzte ich mich am Samstagmittag erneut ins Getümmel. Da das NonTox seit einigen Jahren mit zu den Veranstaltungsorten zählt und dort im Gegensatz zu den meisten anderen Spielstätten recht früh am Tag mit den Bandauftritten begonnen wird, stattete ich dem Club mit seiner Bühne im Innenhof einen Besuch ab. In diesem Jahr war es hier besonders gemütlich. Die Crew hatte das Hofareal im Gegensatz zu den letzten Jahren vergrößert: unter einer alten Kastanie konnte man in Ruhe seine Bratwurst essen und sein Bier trinken und dabei den Bands auf der Bühne zuschauen. Eine sehr gemütliche Lokalität, die auch gut besucht war. Hier spielte zum Beispiel das  kanadische Industrial-Projekt Glenn Love oder die Electro-Popper von Evo-Lution.

Ost+Front (© Stefan Bollmann)

Wer etwas mehr Härte im Leben wollte, war hingegen im Westbad gut aufgehoben.- Für das Wave-Gotik-Treffen war dies eine neue Veranstaltungsstätte. Ursprünglich vor etwa 100 Jahren als Hallenbad gebaut, schlummerte das Gebäude in den letzten Jahrzehnten einen Dornröschenschlaf. Vor Kurzem wurde es als Veranstaltungsstätte wiedererweckt und kernsaniert. Für das WGT traten hier die Bands der Neuen Deutschen Härte auf, die in diesem Jahr gebucht worden waren. Nach Nachtsucher, die eher nachdenklichen Gothic-Rock zum Besten gaben, ging es aber direkt in die Vollen. Ost+Front sind für markige Texte und eine knallige Bühnenshow bekannt. Ganz im Sinne der NDH provozierten sie als eine Art Gesamtkunstwerk nicht nur mit harten Gitarren-Riffs und ihren Outfits, sondern zum Beispiel auch mit Fetischtänzerin und martialischen Masken.

Oomph! (© Stefan Bollmann)

Die einstigen Miterfinder der NDH spielten später am selben Tag in der Agra-Halle. Die Rede ist natürlich von Oomph!, die ihren musikalischen Stil längst weiterentwickelt haben und Alternative- und Gothic-Rock vor voller Halle spielten. In die Agra-Halle passen – als größte Veranstaltungsstätte – mehrere tausend Zuschauer. Und die Halle war auch sehr gut gefüllt. Leider verflüchtigt sich in der Halle bekanntlich der Sound zu einem wabrigen Brei aus Bässen und Drums, je weiter weg man von der Bühne steht. Das liegt einfach an den baulichen Gegebenheiten und wird sich kaum ändern lassen. In den vorderen Bereichen ist hingegen alles gut zu hören.

Nächste Band waren Front Line Assembly. Die kanadischen Electronica-Pioniere, die eng verbunden sind mit Projekten wie Skinny Puppy oder Delerium, boten eine eher unaufgeregte Show. Frontmann Bill Leeb verausgabte sich natürlich trotzdem am Mikro, während es an den Keyboards naturgemäß ruhiger zuging. Interessanterweise ist auch Soundtüftler Rhys Fulber, langjähriges Mitglied bei FLA, nach einer Pause wieder mit von der Partie.

Qntal (cc-by-sa/Mr. Rossi)

Schwenk zum Heidnischen Dorf. Denn dort lauschte unser zweiter Mann den Münchner Mittelalter-Elektronikern von Qntal. Die Band ist auch schon seit langem immer wieder gern gesehener Gast auf dem Wave-Gotik-Treffen. Übergeben wir ihm das Wort:  Qntal sprühte vor Energie, die man bisher so gar nicht gekannt hatte. Fast ausschließlich während des Konzertes hat es elektronisch untermalte Musik mit viel Pep gegeben. Stellenweise war vor lauter Bum, Bum, Bum die Musik selbst nicht wahrzunehmen. Es hat in so manchem Besucher eine Art Hektik verursacht, obwohl die Strukturen der – man sagt Grundmelodien, nicht gänzlich abhanden gekommen sind. Während den etwas ruhigeren Phasen hätte man sich gut und gerne an diese Atmosphäre des Entschleunigens gewöhnen können. Diese ruhigere Verweildauer war leider von zu kurzer Dauer.

Michael Popp – einen Tag später persönlich darauf angesprochen, das man die Musik von Qntal doch eher aus einer ruhigeren „Ecke“ kenne und bereits wahrgenommen hat – antwortete darauf, dass dies so gewollt sei um die Leute „aufzupeppen“. Beim kommenden zweiten Konzert im Schauspielhaus wären dann aber auch zwei, drei ruhigere Stücke zu hören. Ob dies zutraf, vermag man nicht zu sagen, weil aus zeittechnischen Gründen ein Besuch dieses Konzertes leider nicht möglich gewesen ist.

Wardruna (© Stefan Bollmann)

Und Schwenk zurück wieder zur Agra-Halle. Mit der letzten Band des Abends ging es wieder ruhiger zu als bei Oomph! und FLA, sozusagen zum Beruhigen nach all den schnellen, aufregenden Klänge. Wardruna, das Ritual-Folk-Projekt von Einar Selvik aus Norwegen spielten ihre Interpretation alter skandinavischer Musik. Natürlich wurden für die spirituell-schamanistischen Klänge Instrumente nach historischem Vorbild verwendet. Die Show setzte dabei weniger auf optische Reize, sondern konzentrierte sich ganz auf die ungewöhnliche und besondere Musik. Mit den uralten Klängen Wardrunas ging der zweite Abend des Wave-Gotik-Treffens zu Ende.

LICTD (© Stefan Bollmann)

In der Stadt hingegen wurden wie an jedem Abend alle Szeneclubs noch bis zum Morgengrauen von Treffen-Besuchern gestürmt. Hatten sich doch eine Menge prominenter Szene-DJs angesagt. Als einer davon fungierte Ralf Donis, der zusammen mit Mike Hartung im Ilses Erika  die Leipziger Kult-Formation Love Is Colder Than Death (oder kurz LICTD) wieder reanimierte. Von den Heavenly-Voices- und Neoclassic-Pionieren gab es ja schon lange kein Lebenszeichen mehr. Donis hatte die Band darüber hinaus ja schon in den 90ern verlassen, um sich seiner Formation Think About Mutation zu widmen. Nun also so eine Art spezieller Revival-Abend mit den beiden. Der Tanzkeller von Ilses Erika ließ in seinem Füllgrad selbst die Tokyoter U-Bahn wie eine menschenleere Idylle erscheinen. Oder anders gesagt: Wenn man den Inhalt von drei Sardinenbüchsen nimmt und ihn in eine davon hineinpresst, ist das Ergebnis nicht nur eine Sauerei erster Güte, sondern beschreibt auch das nicht mehr vorhandene Platzangebot ganz entfernt.  Den beiden Musikern auf der Minibühne ging es noch vergleichsweise gut. Sie legten ein Set aus alten Stücken auf, umrahmt von der humorigen Anmoderation Ralf Donis‘. Für mich Zeit, aus der Menschenquetschmaschine zu entkommen und den zweiten Tag damit zu beschließen.

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